Das Awarische ist wie alle anderen Nordostkaukasischen Sprachen eine sogenannte Nominalklassensprache. Jedes Nomen ist einer dieser - im Awarischen sind es 3 - in anderen Nordostkaukasischen Sprachen bis zu 8 - Klassen zugeordnet.
Im Awarischen werden diese Klassen durchnummeriert und enthalten die folgenden Nomina:
Auf den ersten Blick scheinen diese Nominalklassen dem Geschlecht (Genus) des Nomens, wie wir es aus vielen indogermanischen Sprachen, speziell auch dem Deutschen kennen, zu entsprechen. Hier haben wir ja:
Im Awarischen findet sich deshalb häufig auch die folgenden Bezeichnungen für die Klassen
Bei einer Genussprache, also z.B. dem Deutschen, können aber auch unbelebte Gegenstände maskulin oder feminin sein, so "der Himmel" oder "die Sonne". Dies ist im Awarischen nicht der Fall: Nur Bezeichnungen für menschliche Wesen können in Klasse I oder Klasse II sein.
Der wesentliche Unterschied zwischen Nominalklassen- und Genussprachen liegt aber an einer anderen Stelle und soll durch das folgende Beispiel erläutert werden:
Der Unterschied zwischen den Geschlechtern kommt im Deutschen in erster Linie durch den Artikel zum Ausdruck: "der" für männlich, "die" für weiblich oder "das" für sächlich. Verwendet man nicht den richtigen Artikel oder lässt man ihn fort, dann klingt der Satz nicht richtig. Bei einigen wenigen Wörtern erkennt man auch am Aufbau des Wortes selbst, ob es männlich oder weiblich ist. So sind Wörter, die auf "-in" enden weiblich und erhalten einen weiblichen Artikel. Das Geschlechtskennung des Nomens muss auch bei einem vorangestellten Adjektiv verwendet werden, z.B.
Auf alle anderen Wörter im Satz wirkt sich das Geschlecht des Nomens nicht aus.
Zusammengefasst also: Das Geschlecht eines Nomens wird immer durch den vorangestellten Artikel und, falls vorhanden, ein vorangestellte Adjektiv, selten mit einem besonderen Kennzeichen (Suffix) am Nomen selbst markiert. Alle anderen Wörter im Satz sind nicht betroffen.
Bei Nominalklassensprachen ist dies anders. Hier tragen alle Wörter des Satzes - außer dem Nomen selbst - die Markierung der Klasse, also im Awarischen: männlich, weiblich oder sächlich! Im Beispiel:
Hier erhält sowohl das Demonstrativpronomen "das", als auch das Verb "ist" eine männliche (MASK) oder weibliche (FEM) Kennung. Diese wird beim Pronomen nachgestellt und beim Verb vorangestellt. Das Nomen selbst verändert sich nicht. Das Geschlecht der Person - im Deutschen "Schüler" oder "Schülerin" - wird nicht im Wort selbst, sondern ausschließlich durch die restlichen Wörter im Satz ausgedrückt!
Auch für sächliche (NEUT) Wörter und den Plural (PL) gibt es jeweils ein eigenes Zeichen. Für die Neutra die Kennung und für den Plural die Kennung im nachgestellten Fall sowie im vorangestellten Fall. Im Beispiel:
Die Bildung des Plural des Nomens ist im Awarischen, wie man sieht, nicht regelmäßig! Dazu später mehr.
Da die Klasse (bzw. "das Geschlecht") des Nomens im Awarischen von allen anderen Wörtern im Satz angezeigt wird, ist ein Artikel, dessen Funktion im Deutschen ja (abgesehen von der Unterscheidung "bestimmter" : "unbestimmter" Artikel) einzig in der Anzeige des Geschlechts des Nomens besteht, eigentlich überflüssig, und fehlt deshalb im Awarischen. Es gibt weder bestimmte Artikel: "der, die, das" noch unbestimmte Artikel: "ein, eine, ein". Ein Satz wie , wörtlich ohne MASK-Suffixe: "Das ist Schüler.", kann also "Das ist der Schüler." oder "Das ist ein Schüler." bedeuten. Welches die richtige Übersetzung ist, ergibt sich durch den Kontext, d.h. den Bedeutungszusammenhang des Gesprächs oder des Textes, in dem der Satz steht.
Ein Artikel muss aber bei einer freien Übersetzung ins Deutsche immer hinzugefügt werden, um den Sinn des Satzes grammatisch richtig wiederzugeben.
HINWEIS: Diese scheinbare Unbestimmtheit des Awarischen zeigt sich am obigen Satz auch in umgekehrter Richtung für das Deutsche.
Wenn wir sagen: "Das ist ein Schüler.", so kann es sich grundsätzlich sowohl um einen Jungen als auch um ein Mädchen handeln.
Der deutsche Satz drückt das Geschlecht nicht aus, obwohl man wohl meist damit einen männlichen Schüler assoziiert.
Im Awarischen kann man aber diese Unbestimmtheit gar nicht zum Ausdruck bringen: Man muss sich entscheiden. Beim obigen Satz ist immer ein männlicher Schüler gemeint.
Bei Fragen wie "Wer ist das?" oder "Was ist das?" und bei Aussagen wie "Das ist ein Stuhl." oder "Das ist der Lehrer." steht in das Regel das Wort "ist" bzw. "sein". In der Umgangssprache kann dieses Wort dagegen, wie etwa auch im Russischen, fehlen: "Wer das?" und "Was das?" und bei der Aussage: "Das Stuhl." und "Das Lehrer."
Die Wortstellung im Satz ist im Awarischen relativ frei. Bevorzugt wird S-O-V, aber auch S-V-O ist möglich.
Bereits im einfachen Aussagesatz: "Das ist Mohammed." oder "Das ist ein Buch." begegnen wir den Effekten der Nominalklassen. In der Übersicht für die 4 Möglichkeiten: MASK, FEM, NEUT und PL:
Während -- die sächliche Form ist üblicherweise die, die im Wörterbuch gelistet wird -- "das" im Sinne von "dieses hier" heißt, bedeutet "das" im Sinne von "jenes dort". Auch hier gibt es wieder 4 Formen:
Gleiches gilt für "hier ist":
und für "dort ist":
HINWEIS: Verb und Nomen können in der Reihenfolge jeweils immer vertauscht werden.
Bei Ja-Nein Fragen wird das Fragesuffix bzw. falls das Wort auf einen Vokal endet (in der interlinearen Übersetzung abgekürzt FP) an das Verb angehängt. Wieder unterscheiden wir 4 Formen:
In der Umgangssprache kann das Hilfsverb fehlen und das Suffix bzw. direkt an das Nomen angehängt werden:
Bejahung
Im einfachsten Fall wird einfach mit "Ja." geantwortet. Alternativ kann dem "ja" nochmals der gefragte Satz folgen, z.B.: , frei: "Ja, das ist Mohammed."
Verneinung
Der einfachste Fall ist hier ein "Nein." .
Zur Bekräftigung kann der Satz auch nochmals in negierter Form wiederholt werden: .
Alternativ - aber regional gesehen wohl nicht überall im Awarischen Sprachraum - ist die Verneinung mit dem Verb , "nicht sein",
also .
Auch bei Wortfragen, manchmal W-Fragen genannt, weil im Deutschen und Englischen die meisten Fragewörter mit "w" beginnen ("wer?", "was?", "wo?" ...) finden wir im Awarischen 4 Varianten des Fragewortes.
Wer ist das?
Wer oder was ist das?
In der Umgangssprache kann das Hilfsverb fehlen:
Die Frage für den Plural gilt nur für die Klassen I und II. Will man nach mehreren Dingen oder Sachen (aus der Klasse III) fragen, fragt man:
Wer ist hier?
Das Hilfsverb "sein" wird in diesem Fall als Partizip Präsens verwendet. Dabei tritt die Geschlechtskennung sowohl vor als auch hinter das Verb.
Wer oder was ist hier?
Wer oder was ist dort?
Auch hier gilt die Frage für den Plural gilt nur für die Klassen I und II. Will man nach mehreren Dingen oder Sachen (aus der Klasse III) fragen, sagt man:
Wo ist etwas?
Auch das Fragewort "wo" hat 4 Formen:
Bei der Antwort steht das Nachgefragte dann an erster Stelle im Satz:
Für viele Wörter gibt es 4 Formen: eine männliche, eine weibliche, eine sächliche und eine Mehrzahlform. Welche muß man lernen? Im Wörterbuch steht meist die sächliche Form. Männliche, weibliche und Mehrzahlform ergeben sich systematisch, wobei das sächliche , durch das weibliche , das männliche und das mehrzahlige am Wortende bzw. am Wortanfang und im -inneren ersetzt wird. Dabei kann sich gleichzeitig auch der benachbarte Vokal verändern.
Bei den Nomen gibt es keinen Unterschied zwischen männlicher, weiblicher und sächliche Form. Hier muss allerdings die Pluralform mitgelernt werden, da sie unregelmäß variiert.
© 2005 | Reinhold Greisbach (Institut für Linguistik - Phonetik) | & | Aina Kazimagomedova (FB 11) |
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