Genau wie im Deutschen, im Englischen und in vielen anderen Sprachen gibt es im Estnischen keine systematischen und für alle Wörter gültigen Regeln, die beschreiben, wie man aus der Wörterbuchform des Nomens, dem Nominativ Singular, den Nominativ Plural ableiten kann. Im Deutschen sind die Irregularitäten dabei so groß, d.h. sie betreffen so viele Wörter, dass Deutschlernende meist die Pluralform der Nomen mitlernen müssen.
Im Estnischen gibt zwar es eine Regel für die Art und Weise, mit der man den Nominativ Plural vollständig systematisch herleiten kann. Die Ausgangsform ist dabei nicht die Wörterbuchform, d.h. der Nominativ Singular, sondern der Genitiv Singular des Wortes. Und dieser Genitiv Singular lässt sich nicht mit Hilfe von Regeln aus dem Nominativ Singular ableiten. Deshalb muss man zusätzlich zum Nominativ Singular eines estnischen Nomens noch eine weitere Form gelernen. Üblicherweise ist dies der Genitiv Singular.
Kennt man den Genitiv Singular eines Wortes, der grundsätzlich immer auf einen Vokal endet, muss man an diesen nur noch ein -d anfügen, um den Nominativ Plural zu erhalten.
Das Demonstrativpronomen see (dieser, diese, dieses) besitzt einen eigenen Stamm für den Plural: need (diese).
See õpilane on eestlane. | Dieser Schüler ist Este. |
See ilus maja on väike. | Dieses schöne Haus ist klein. |
Need tudengid on sakslased. | Diese Studenten sind Deutsche. |
Need ilusad majad on väikesed. | Diese schönen Häuser sind klein. |
Adjektive und Nomen unterscheiden sich im Estnischen nicht so deutlich voneinander wie im Deutschen. Denn die Großschreibung von Nomen gibt es im Estnischen, wie in fast allen anderen Sprachen, die auf das lateinische Alphabet zurückgreifen, nicht. Und auch einen Artikel, den man wie im Deutschen einem Wort voranstellen könnte, um es zu einem Nomen zu machen, gibt es nicht. Der einzig verbleibende wesentliche Unterschied liegt darin, dass man Adjektive steigern kann, Nomen dagegen nicht. Adjektive, die man nicht steigern kann, wie etwa der Fall des klassischen deutschen Lehrbeispiels «tot», dessen Steigerungsformen «toter, am totesten» im Standarddeutschen nicht erlaubt sind, verursachen deshalb ein Problem. Solche Wörter können im Estnischen sowohl Nomen wie auch Adjektive sein. Ein typisches Beispiel sind die Namen für Länder, so wie Eesti, das sowohl ein Nomen: Estland (Nomen) wie auch ein Adjektiv: estnisch ist. In der Verbindung eesti keel bedeutet es als Adjektiv beispielsweise die estnische Sprache oder auf deutsch einfach Estnisch (Im Deutschen wird das Adjektiv groß geschrieben, wenn damit die Sprache gemeint ist.) Diese Doppelfunktion von Nomen und Adjektiv im Falle von eesti wird auch deutlich, wenn der Este sein Heimatland neben dem übilichen Eesti auch Eestimaa, wortwörtlich also das estnische Land nennt, um klar zu machen, dass tatsächlich Estland gemeint ist.
Adjektive die als Attribut gebraucht werden, stehen wie im Deutschen vor dem Nomen
armas õpetaja | ein/e nette/r Lehrer/in |
uus märkmik | ein neues Notizbuch |
valge paber | (ein) weißes Papier |
Steht das Nomen im Plural bekommt das attributive Adjektiv auch eine Pluralendung.
armasad õpetajad | nette Lehrer/innen |
uud märkmikud | neue Notizbücher |
valged paberid | weiße Papiere |
Genau wie im Deutschen können mehrere Adjektive ohne das Wort «und» dem Bezugswort als Attribute vorangestellt werden. Steht das Bezugswort im Plural, dann stehen auch alle attributiven Adjektive im Plural.
suur valge auto | ein großes weißes Auto |
suured valged autod | große weiße Autos |
Das Adjektiv steht dabei in der Regel im gleichen Kasus wie das Bezugswort. Bei einigen der sog. Randkasus (dies sehen wir später) steht das Adjektiv dagegen im Genitiv. Adjektive werden nach den gleichen Regeln konjugiert wie Nomen. Auch für die Kasus bei denen das Adjektiv nicht im gleichen Kasus wie das Bezugswort steht (sondern im Genitiv) gibt es diese Kasusformen für das Adjektiv, was nochmals die große Ähnlichkeit von Adjektiven und Nomen im Estnischen verdeutlicht.
Im Gleichsetzungssatz, wenn also das Adjektiv als Prädikativ oder Prädikatsnomen gebraucht wird, steht das Adjektiv normalerweise wie im Deutschen hinter dem Hilfsverb olema (sein). Mehrere Adjektive als Prädikatsnomen werden durch ja (und) verbunden.
Ma olen suur. | Ich bin groß. |
Sa oled väike. | Du bist klein. |
See tahvel on must. | Diese Tafel ist schwarz. |
See kirik on uus. | Diese Kirche ist neu. |
Pliiats on väike ja punane. | Der Bleistift ist klein und rot. |
Steht das Subjekt im Plural muss, anders als im Deutschen, auch das Adjektiv als Prädikatsnomen in den Plural.
Me oleme suured. | Wir sind groß. |
Te olete väiksed. | Ihr seid klein. |
Need tahvlid on mustad. | Diese Tafeln sind schwarz. |
Need kirikud on uued. | Diese Kirchen sind neu. |
Pliiatsid on väikesed ja punased. | Die Bleistifte sind klein und rot. |
Wird das Adjektiv als Prädikatsnomen in einem negierten Satz verwendet, steht es wie im Deutschen auch im Nominativ. (Wir werden im Verlauf des Kurses sehen, dass die Verneinung im Estnischen ansonsten immer einen anderen Fall nach sich zieht, den Partitiv, den wir erst in Lektion 5 kennen lernen werden.)
Ma ei ole suur. | Ich bin nicht groß. |
Me ei ole suured. | Wir sind nicht groß. |
See tahvel ei ole must. | Diese Tafel ist nicht schwarz. |
Need tahvlid ei ole mustad. | Diese Tafeln sind nicht schwarz. |
See kirik ei ole uus. | Diese Kirche ist nicht neu. |
Need kirikud ei ole uued. | Diese Kirchen sind nicht neu. |
Das Fragewort nach dem Adjektiv lautet missugune? (was für ein?) bzw. im Plural missugused (was für welche?).
Missugune on see tüdruk? | Was für ein Mädchen ist das? |
See on sale tüdruk. | Das ist ein schlankes Mädchen. |
Missugune on see auto? | Was für ein Auto ist das? |
See on kollane auto. | Das ist ein gelbes Auto. |
Missugused on need õpetajad? | Was für Lehrer sind das? |
Need on noored õpetajad. | Das sind junge Lehrer. |
Die Konjunktion ja (und) bereitet dem Estnischlernenden keine Probleme. Sie wird genau wie im Deutschen sowohl als Verbindung von Satzteilen wie auch von ganzen Sätzen verwendet. Gleiches gilt für die Konjunktion või (oder).
Minu poeg ja minu tütar on siin. | Mein Sohn und meine Tochter sind hier. |
Kas see on haigla või hotell? | Ist das ein Krankenhaus oder ein Hotell? |
See siin on valge kirjapaper ja see seal on punane kirjapaper. | Dies hier ist weißes Briefpapier und das dort ist rotes Briefpapier. |
Die ersten zehn estnischen Zahlwörter (mit der Null) lauten:
0 | null |
1 | üks |
2 | kaks |
3 | kolm |
4 | neli |
5 | viis |
6 | kuus |
7 | seitse |
8 | kaheksa |
9 | üheksa |
10 | kümme |
Die Zahlwörter stehen wie im Deutschen vor dem Nomen, dessen Anzahl sie beschreiben, dem sog. Bezugswort, wie z.B. ein Mann, zwei Autos usw. Anders als im Deutschen, wo das Zahlwort eins in dieser Funktion identisch mit dem unbestimmten Artikel ein ist, ist üks im Estnischen ein reines Zahlwort. Mit üks mees also ein Mann wird hervor gehoben, dass es sich nur um eine einzige Person handelt. Beim Übersetzen aus dem Deutschen ins Estnische sollte man deshalb den unbestimmten Artikel ein, eine, ein einfach fortgelassen und nicht durch das Zahlwort üks ersetzen.
Hinter den Zahlwörten ab zwei steht im Estnischen anders als im Deutschen das Nomen im Singular, allerdings nicht im Nominativ Singular, sondern im Partitiv Singular, den wir erst in Lektion 5 kennenlernen werden. Im Augenblick können wir also die Zahlen nur zum Zählen verwenden.
© 2007 | Reinhold Greisbach (Institut für Linguistik - Phonetik) | & | Pille Roosmaa (Institut für nordische Philologie) |
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