Lektion 4: Grammatik

1 Infinitiv

(a) Bildung des Infinitivs

Der Infinitiv ist die Form, in der estnische Verben im Wörterbuch gelistet werden. Hier gibt es also keinen Unterschied zum Deutschen. Will man einen estnischen Satz mit Hilfe eines Wörterbuchs ins Deutsche übersetzen, muss man für die Verbform zuerst den Infinitiv ermitteln, und diesen dann im Wörterbuch nachschlagen. Der Infinitiv ist jedoch nicht nur dazu da den Wörterbucheintrag des Verbs zu bilden. Genau wie im Deutschen steht der Infinitiv beispielsweise auch hinter einem Modalverb: Ich kann gehen.

Der Infinitiv ergibt sich dadurch, dass die Infinitivendung, im Deutschen ist dies =en an den sog. Verbstamm angehängt wird. Im deutschen Beispiel haben wir die Infinitive geb=en oder les=en. Die Stämme lauten also geb= und les= An diese Stämme können nun z.B. die Personenkennzeichen angehängt werden: ich leg=e, du leg=st, er leg=t usw.. Hat eine Sprache nur Bausteine, die durch Aneinanderreihung - ohne lautliche Veränderung des Stammes - eine neue Wortbedeutung schaffen, so nennt man sie agglutinierend. Obiges Beispiel würde dafür sprechen, das Deutsch eine agglutinierende Sprache ist. (Türkisch und Mongolisch sind anerkannte agglutinierende Sprachen.) Aber dieses Beispiel ist nicht unbedingt typisch, denn bei ich geb=e, du gib=st, er gib=t, usw. ändert sich gleichzeitig auch der Stamm. Eine solche Sprache nennt man flektierend. (Deutsch gilt als flektierende Sprache.)

Für die Wörterbucharbeit sind flektierende Sprachen ungleich schwerer zu handhaben, als agglutinierende. So muss man bei einem Satz der die Form Er gibt ... wissen, dass der Infinitiv geben heißt und nicht giben.

Obwohl Estnisch als eine agglutinierende Sprache gilt, man also davon ausgeht, dass sich die Verbformen nur durch Anfügen von Suffixen, ohne Änderung des Stammes ergibt, bietet Estnisch eine Schwierigkeit der besonderen Art, die es erschwert, für eine beliebige Verbform den richtigen Wörterbucheintrag zu finden.

Estnische Verben haben nämlich zwei verschiedene Infinitive und sehr oft auch unabhängig davon zwei verschiedene Stämme.

Die beiden Infinitive heißen ma-Infinitiv und da-Infinitiv bzw. manchmal auch ta-Infinitiv, nach ihren (hauptsächlichen) Endungen. Sie werden in unterschiedlicher Funktion gebraucht. So bildet der ma-Infinitiv in den meisten estnischen Wörterbüchern den Wörterbucheintrag des Verbs. Weiterhin steht er beispielsweise nach Wörtern der Bewegung: «Ich gehe einkaufen.». Dagegen steht der da-Infinitiv z.B. nach vielen Modalverben: «Ich kann schreiben.»

Die beiden Stämme heißen starker und schwacher Stamm, da sie sich durch einen Stufenwechsel unterscheiden. Besitzt ein estnisches Verb zwei Stämme, so wird der ma-Infinitiv immer mit dem starken Stamm gebildet. Der da-Infinitiv kann dagegen entweder mit dem starken oder mit dem schachen Stamm gebildet werden. Der Stamm des da-Infinitivs beeinflusst in diesem Fall auch den Stamm der finiten Formen. Wird dann der da-Infinitiv mit dem schwachen Stamm gebildet, dann besitzen die Präsensformen den starken Stamm.

Starker StammSchwacher Stamm
ma-Infinitivõppi=ma
da-Infinitivõppi=da
1.Pers.Sg.Präsõpi=n

Wird dagegen der da-Infinitiv mit dem gleichen (starken) Stamm wie der ma-Infinitiv gebildet, dann fordern die Präsensformen den schwachen Stamm.

Starker StammSchwacher Stamm
ma-Infinitivhüppa=ma
da-Infinitivhüpa=ta
1.Pers.Sg.Präshüppa=n

Die Endungen des ma-Infinitivs lauten immer -ma, die des da-Infinitvs lauten -da, -ta, -a, -ha, -la, -na, -pa oder -ra:

istu=maistu=da(sitzen, sich setzen)
tead=matea=da(wissen)
and=maan=da(geben)
vaata=mavaada=ta(schauen)
aita=maaida=ta(helfen)
hakka=mahaka=ta(beinnen)
võt=mavõt=ta(nehmen)
taht=matah=ta(wollen)
käi=makäi=a(gehen)
tege=mate=ha(machen)
tule=matul=la(kommen)
mine=mamin=na(gehen)
pane=mapan=na(setzen, stellen, legen)
sure=masur=ra(sterben)

Wie wir bei der Beschreibung des Stufenwechsels bereits gesehen haben, kann man nicht allen Wörtern unmittelbar ansehen, ob es in der starken oder schwachen Stufe steht und in welcher lautlichen Veränderung sich der Stufenwechsel bemerkbar macht.

Um ein estnisches Verb zu lernen, muss man in jedem Fall den ma-Infinitiv lernen. Darüberhinaus aber noch, ob und wie sich ein Stufenwechsel vollzieht und ob er sich im da-Infinitiv oder bei der Präsensbildung bemerkbar macht.

Dazu gibt es in der estnischen Grammatik eine (je nach Autor unterschiedliche) Einteilung der Verben in verschiedene Klassen. Das Eesti keele sõnaraamat von 1999 sieht hier 21 Verbklassen (Typenwörter 49 - 69) vor. Die Nummer der Verbklasse müsste man sich also z.B. merken, um anhand des Typenwortes die richtige Form ableiten zu können. Dies ist jedoch im Hinblick auf das Erlernen einer Sprache sicher keine sinnvolle Lerntechnik.

Stattdessen lernt man estnische Verben, indem man statt eines einzigen Wortes, 3 Wörter lernt: ma-Infinitiv, da-Infinitiv und 1. Pers. Sing. Präsens - in manchen Lehrwerken auch 3. Pers. Sing. Präsens -, letzteres stellvertretend für den Präsensstamm. Dies macht man auch dan, wenn das Verb keinen Stufenwechsel hat. Auf diese Weise hat man bereits 3 Formen explizit gelernt. In unserem ersten Verb sein lernen wir also olema - olla - olen. Dabei sehen wir im Übrigen auch, dass das zweite Wort, der da-Infinitv nicht auf da endet - was nicht unbedingt eine Seltenheit ist.



2 Präsens

(a) Bildung des Präsens (affirmativ)

Geschehnisse der Gegenwart, die während des Sprechens ablaufen, werden wie im Deutschen mit dem Präsens beschrieben. Die Formen des Präsens ergeben sich durch Anhängen der jeweiligen Personalendungen, an den Stamm des Verbes.

Wie bereits erwähnt, haben viele Wörter, so auch die Verben des Estnischen, zwei Stämme. An welchen Stamm, den starken oder den schwachen, die Präsens-Endungen angehängt werden, lässt sich leider nicht vorhersagen. Deshalb muss die 1. Pers. Sing. Präsens, neben den beiden Infinitiven - dem ma- und dem da-Infinitiv, als dritte Form immer mitgelernt werden. Innerhalb des Präsensparadigmas gibt es dagegen keinen Stufenwechsel. Das heißt, alle anderen Präsensformen haben den gleichen Stamm, so dass aus der 1. Pers. Sing. alle anderen Personalendungen des Präsens abgeleitet werden können.

Das Endungsparadigma in der Übersicht:

SINGULARPLURAL
1. PERSON-n-me
2. PERSON-d-te
3. PERSON-b-vad


Schauen wir uns das Wort kirjutama - kirjutada - kirjutan (schreiben) an. Es besitzt nur einen einzigen Stamm. Er ergibt sich aus dem ma-Infinitiv durch Abtrennen der Endung -ma als kirjuta-. Üblicherweise steht - falls kein anderes Subjekt vorhanden ist - das Personalpronomen zusammen mit den Personalpronomen.

mina kirjutan(ich schreibe)meie kirjutame(wir schreiben)
sina kirjutad(du schreibst)teie kirjutate(ihr schreibt, Sie schreiben)
tema kirjutab(er,sie,es schreibt)nemad kirjutavad(sie schreiben)


Wie bereits erwähnt kann neben der Langform der Pronomen auch gleichberechtigt die Kurzform benutzt werden. Diese wird bevorzugt, falls das Pronomen nicht besonders betont werden soll.

ma kirjutan(ich schreibe)me kirjutame(wir schreiben)
sa kirjutad(du schreibst)te kirjutate(ihr schreibt, Sie schreiben)
ta kirjutab(er,sie,es schreibt)nad kirjutavad(sie schreiben)


Tatsächlich kann in der 1. Person und 2. Person sowohl im Singular als auch im Plural das Personalpronomen fortgelassen werden. Die Endung am Verb garantiert die Bedeutung eindeutig.

kirjutan(ich schreibe)kirjutame(wir schreiben)
kirjutad(du schreibst)kirjutate(ihr schreibt, Sie schreiben)


Eine Besonderheit bildet das Verb minema (kommen) das im Präsens einen besonderen - nicht durch den Stufenwechsel erklärbaren - Stamm besitzt. Also nicht mina minen, sina mined usw. sondern:

mina lähen(ich komme)meie läheme(wir kommen)
sina lähed(du kommst)teie lähete(ihr kommt, Sie kommen)
tema läheb(er,sie,es kommt)nemad lähevad(sie kommen)

Eine weitere - schon gesehene Besonderheit - bildet das Verb olema (sein) das in der 3. Person Präsens andere - in Singular und Plural gleichlautende - Endungen besitzt.


(b) Bildung des Präsens (negiert)

Die Verneinung eine Aussage im Präsens geschieht durch das Wort ei, das dem Verbstamm vorangestellt wird. Es gibt in diesem Fall also keine unterschiedlichen Endungen für die Person und den Numerus. Dies bedeutet, das Personalpronomen kann bei verneinten Aussagen nicht fortgelassen werden. Am Beispiel kirjutama schreiben sehen wir das Paradigma:

mina ei kirjuta(ich schreibe nicht)meie ei kirjuta(wir schreiben nicht)
sina ei kirjuta(du schreibst nicht)teie ei kirjuta(ihr schreibt, Sie schreiben nicht)
tema ei kirjuta(er,sie,es schreibt nicht)nemad ei kirjuta(sie schreiben nicht)

Auch hier kann natürlich wieder die Kurzform der Personalpronomen stehen.


(c) Verwendung des Präsens

Der Präsens drückt wie im Deutschen nicht nur Gegenwärtiges sondern auch Zuküftiges aus. Im Estnischen muss in diesem Fall auch das Präsens stehen, da es keine eigene Futurform gibt.

Täna õhtul lähen ma kinno.Heute abend werde ich ins Kino gehen.
= Heute abend gehe ich ins Kino.
Homme lähen ma kooli.Morgen werde ich in die Schule gehen.
= Morgen gehe ich in die Schule.

Gleichfalls wir im Deutschen beschreibt das Präsens allgemeines und gerade Geschehendes aus, wo etwa das Englische zwei Formen aufweist.

BEISPIEL:

Ma mängin klaverit.Ich spiele Klavier. (immer, engl.: I play piano.)
Ma mängin klaverit.Ich spiele Klavier. (gerade jetzt, engl.: I am playing piano.)


3 Unbestimmte Mengenangaben

Genau wie im Deutschen gibt es unbestimmte Mengenangaben, die als Subjekte im Satz stehen können, wie kõik (alle), palju (viele) oder mõned (einige). Das Verb des Satzes hat dabei auch genau wie im Deutschen die Endung des 3. Person Plural.

Kõik tantsivad.Alle tanzen.
Paljud tantsivad.Viele tanzen.
Mõned tantsivad.Einige tanzen.

Bei anderen unbestimmten Mengenangaben, die als Subjekte im Satz stehen können, und die eigentlich eine Negation der Menge beinhalten, wie keiner oder niemand steht im Deutschen das Verb im Singular. Das tut es im Estnischen auch, jedoch gibt es im Estnischen kein eigenes Wort für das negierte Subjekt also keiner = nicht einer bzw. niemand = nicht jemand. Im Estnischen wird stattdessen das Verb verneint.

Keegi ei tantsi.Keiner tanzt. = (Jemand tanzt nicht.)
Mitte keegi ei tantsi.Niemand tanzt. = (NEG jemand tanzt nicht.)

Wird eines der obigen unbestimmten Mengenangaben negiert, kann das Verb sowohl negiert als auch affirmativ gebraucht werden. Für die Negation reicht hier das der Mengenangabe voraufgehende mitte.

Mitte kõik ei tantsi.Nicht alle tanzen.
Mitte kõik tantsivad.Nicht alle tanzen.

Auch im zugehörigen Fragesatz sind - anders als im Deutschen - Singular und Plural möglich, je nachdem welche Anwort erwartet wird.

Kes tantsib?Wer tanzt? (erwartet: keiner oder eine Person)
Kes tantsivad?Wer tanzt? (erwartet: alle oder viele Personen)



Letzte Änderung: 2008-04-03 20:32:22


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